Wenn ich in eine Friedenstadt käme, woran würde ich es erkennen?
Frieden, dazu fällt mir nichts ein.
Schauen Sie nicht so überrascht, ich weiß selbst, dass ich in ihm lebe, schon mein Leben lang. Da können wir Österreicher_innen rumjammern, was wir wollen, es hat schon schlechtere Zeiten gegeben. Trotzdem: Zum Krieg habe ich ein Bild. Zum Frieden fällt mir nichts ein.
Der Frieden zerfällt, sobald ich ihn in die Hand nehmen und anschauen will, sofort in Bestandteile, in Bilder. Menschen lachen, weinen, sitzen an einem Tisch, vielleicht essen sie, vielleicht reden sie, vielleicht spielen sie Risiko, dieses fürchterliche Spiel, bei dem man mit Plastikarmeen um andere Länder würfelt und wenn man, so wie ich immer, einfach nur in seinem Land bleibt und an etwas anderes denkt als an die Invasion, den Besitzanspruch an ein Land, in dem man nichts verloren hat, von dem man wahrscheinlich nichtmal die Hauptstadt richtig benennen könnte, dann verliert man ganz sicher.
Wie lernt man den Frieden? Wie macht man sich ein Bild von ihm?
Wenn der Frieden ein Tisch ist, an dem Menschen zusammensitzen, worüber reden sie dann? Übers Wetter? Über die Liebe? Über das Geld? Immerhin, auch wenn sie streiten, sie sitzen an einem Tisch, vielleicht wird die Stimme laut, aber das ist immer noch ein Bild des Friedens, hier wird vielleicht gestritten, aber nicht bis aufs Blut. Oder wenn, dann kommt so ein Bulle aus Tölz- Lookalike, dann wird ermittelt.
Seit 2012 lebe ich in einem Friedensnobelpreis. Ich kenne Panzer nur aus den Kinos, Maschinenpistolen aus Büchern und – und das ist relativ neu – von den Bahnsteigen in z.B. Salzburg. Ich finde es ironisch, dass ich an der Grenze keinen Pass mehr brauche, im Zug quer durchs Land schon. Die Polizei hat aufgerüstet, sie ist jetzt mehr „Robocop“ als „Der Bulle von Tölz“. Durch mein Bild des Friedens geht ein Riss. Ich habe nichts dagegen, kontrolliert zu werden, solang die Instanzen staatlicher Kontrolle selbst einer Kontrolle unterliegen. Nur fällt es mir schon auf, dass ich, weiße Frau um die Vierzig, selten kontrolliert werde, die Menschen mit dunklerer Haut immer.
Der Frieden, in dem ich lebe, hat immer schon sehr schnell die Grenze gezogen.
Die Grenze war ein eiserner Vorhang.
Die Grenze war der lange Stau zwischen daheim und dem Urlaub.
Die Grenze war eine andere Sprache, aber auch die eigene Sprache, die mich immer blöd anmachte. „Du, wie du wieder redst. Bist aber ned vo da, goi?“
Die Grenze waren die Literaturen meiner Sprache. Die beiden Deutschlands, die so schlecht über sich redeten. Die Schweiz, von der ich nichts wusste, außer Käse, Schokki, Heidi und Abfahrtshocke.
Die Grenze war ein rotes Telefon, war der Finger am Zünder der Bombe.
Die Grenze war wirkungslos, war kein Schutz vor den wirklichen Bedrohungen. Vor dem Schmutz in der Luft, vor dem Gift im Wasser, vor der Wolke, die schwarz über uns hing, eine Wolke aus Angst. In 7 von 9 Bundesländern sind die Häuser einer gewissen Zeit verpflichtend schutzunterkellert. Ich mache jetzt keinen Witz darüber, was in Österreichs Kellern so passiert, ich will vom Frieden reden und von dem Schutzkeller, den ich kenne. Mein Papa lagert dort seinen Wein, meine Mama die Marmelade, ein Klo gibt es nicht. Dieser Keller ist ein Denkmal, hier kann man, Marmeladebrote kauend, sich auf hohem Niveau betrinken, immer darauf achtend, den Wein atmen zu lassen, während der eigene Atem sich zu einem Paket verschnürt, weil alles so sinnlos ist, weil Angst so überhaupt nichts bringt. Angst ist eine Verschwendung, die uns lähmt, die uns dazu bringt, Bilder von uns und den anderen zu bauen, die uns dazu bringt, im Garten Keller zu buddeln, die uns keine Zuflucht und keine Zukunft bieten würden im Ernstfall, der die Grenzen, die wir so fleissig bauen, immer einfach ignoriert.
Wo kommt die Angst her? Wem nützt sie? Wer schürt sie? Wer verdient an ihr?
Eine Grenze anderer Qualität ist die Zeit. Meine Kindheit war ein Zuckerschlecken und Sandkastenspielen, bis auf das Jahr nach Tschernobyl, als Sand pfui war. Die Kindheit meiner Eltern war eine Kindheit in diesem großen, entsetzlichen Krieg, den wir einerseits nie vergessen sollten, über den wir aber auch nicht offen reden durften, wegen den Opas im Umfeld und weil’s dann wieder Streit gab am Stammtisch, denn: „Irgendwann muss ja auch einmal Schluss sein.“ Schnell wurde hier ein Schlussstrich gezogen, die Stunde Null, die als Grenze gemeint war, weil wir jetzt ja endlich Frieden hatten und unseren Frieden haben wollten.
Und immer war der Krieg zum Greifen nah. In der Schule lernte ich „immerwährend“ zu buchstabieren und „Neutralität“. Gleichzeitig machten sich einige Köpfe, ich könnte sie klug nennen, wenn sie nicht so dumm, dreist und gierig gewesen wären, daran, Geld zu verdienen mit illegalen Waffengeschäften, am 21. September 1987 titelte der Spiegel so: „Fast Hochverrat, Trotz Ausfuhrverbots exportierte die Staatsfirma Voest Kanonen in den Iran.“
Immerhin wurde das untersucht, immerhin war das kriminell, immerhin musste jemand zurücktreten deshalb.
Während dieser Zeit bin ich immer noch ein Kind, das im Frieden lebt, in meinem Kopf sammeln sich Bilder des Friedens, Freundschaften, Sport, Bücher, Lachen, Übermut, der erste Urlaub am Meer. An ebendiesem Meer redete ich mit den Jungs und Mädels von dort mit Händen und Füßen und ein bisschen Schulenglisch, und plötzlich sagten sie, „psst, hört ihr nicht, das sind die Serben? Still jetzt, die verprügeln uns sonst…“
Ich musste damals nachfragen, was Serben sind, ich kannte nur Yugos, Yugoslawien war ein Land, das grad erst hinter der Grenze des eisernen Vorhangs hervorgetreten war, eine terra incognita mit Meer und einem Eis, das anders schmeckte als daheim, das war ein Land und ein Volk, mit unterschiedlichen Leuten, so wie wir.
Sie wissen, was jetzt kommt. Der große, entsetzliche Krieg ist uns schon wieder sehr nahe gekommen damals. Und wir? Was haben wir damals gemacht? In Frieden gelebt? Wie nah darf Krieg kommen, damit wir von Frieden reden dürfen?
Woran erkennt man also eine Friedenstadt, wir leben doch im Frieden, wir leben in einer Stadt oder in der Nähe einer Stadt, Friedensstadt, so schwer kann das doch nicht sein.
In einer Friedensstadt gibt es Strom oder auch nicht.
Es gibt Trinkwasser, im Idealfall ungefiltert aus der Leitung.
In einer Friedensstadt gibt es Häuser, darin wohnen Menschen, alleine oder mit Freunden oder mit der Familie. Die Frau geht arbeiten, der Mann kümmert sich um die Kinder oder umgekehrt, oder beides. Mir ist alles recht. Es gibt ein Krankenhaus, im Krankenhaus gibt es Medikamente, in den Friedensstädten, in denen ich besonders gerne lebe, kann ich mir das Hingehen auch leisten, weil die Gemeinschaft die Kosten für die Notfälle übernimmt, weil wir solidarisch leben. In einer Friedensstadt gibt es eine Gemeinschaft, in die wir einzahlen, wenn mein Leben so läuft, wie ich es mir wünsche, werde ich immer Netto-Zahlerin sein und, mit eurer Hilfe, immer versuchen, eine Auge darauf zu haben, was mit den Geldern gemacht wird. In der Friedensstadt, die ich als solche erkennen kann, ist es aber auch meine Entscheidung, ob ich hingehe ins Krankenhaus oder ob ich meinen körperlichen Ernstfall lieber damit kuriere, dass ich mir ein Nudelsieb aufsetze und dem Fliegenden Spaghettimonster meine Parmesanvorräte opfere.
Wohlgemerkt, das gilt nur, wenn mein körperlicher Notfall ein nichtansteckender ist, wenn ich mit meinem Verhalten nicht meine Mitmenschen gefährde.
Denn, in einer Friedensstadt, die ich erkenne, darf ich selbst entscheiden, darf ich mich abseits der Norm verhalten und, vor allem, ich darf Fehler machen. Denn der Frieden verzeiht Fehler, gibt eine zweite Chance, liefert Alternativen und Kreuzungen.
Der Frieden erlaubt uns, uns unsere Herausforderungen und unsere Spleens selbst zu suchen. Dem Frieden ist es egal, ob wir unsere Zeit lieber im Lotussitz oder mit Egoshootern verbringen. Es ist der Krieg, der keine Fehler verzeiht. Es ist der Krieg, der nur eine Marschrichtung und die Autobahn kennt, der uns gleichschalten will, der ein UNS definieren und gegen ANDERE aufhetzen will. Der uns mit Bürgerkrieg droht, der die ANDEREN, die Asylsuchenden z.B. als triebgesteuert, übersexualisiert, tiernah schildert, der das Uns betont, von diesem Uns Einheit fordert und Gehorsam und das Andere dämonisiert. Es ist der Krieg, der uns anlügt, wissentlich und postfaktisch ohne Folgen. Und plötzlich ist das wieder salon- und koalitionsfähig.
Es wird wieder streng in UNS und ANDERE eingeteilt. Als würde Frieden bewahren heißen, Grenzen zu ziehen. Frieden entsteht, wenn wir über unsere Grenzen hinausgehen. Die Welt kennenlernen, die Menschen, uns selbst, die Keller in unseren Herzen, die Abgründe. Frieden heißt, in einer Heimat zu leben, die zulässt, dass das das Bild von der Heimat, vom Frieden, von uns in Einzelbilder zerfällt und jedes Einzelbild ist Teil unseres Reichtums. Frieden ist Beziehung. Und wie jede Beziehung muss man sie pflegen, darf sich nicht ein ganzes Jahrzehnt lang ungepflegt mit einem Bier und Popcorn in der Hand mit dem Frieden auf die Fernsehcouch kuscheln, Reality TV schauen und sich dann erwarten, dass er nicht brüchig wird. Frieden ist Lernen aus der Vergangenheit, Leben in der Gegenwart und Visionen haben für die Zukunft. Die, die das Uns und das Andere so trennen wollen, haben aus der Vergangenheit gelernt. Und wir, die wir unser Leben lang in einem Frieden leben durften, dürfen jetzt und jeden Tag den Beweis antreten, dass wir zu diesem Frieden Bilder und Visionen entwickelt haben und bereit sind an ihm zu arbeiten. Frieden, endlich finde ich ein Bild, das ich klauen kann, Frieden, das ist das Gegenteil von Mordor und die gute Nachricht ist, wir sind alle kleine Frodos, Sams und Pippins und wir sind unterwegs. Die gute Nachricht ist, das wir das können. Denn wir sind klug, begabt, gefördert, nicht immer mit den passenden Programmen, und wertgeschätzt, okay, das wirklich nicht immer von allen. Aber das ist egal, den Frieden heißt nicht, dass alle zustimmen müssen, Frieden heißt, dass wir kein Problem damit haben, wenn es mehr als eine Art gibt, Teil dieses Uns zu sein, ein gutes Leben zu führen. Denn Frieden, das ist eine tolle Sache, wenn es ihn nicht schon gebe, man müsste ihn erfinden. Mieze Medusa – www.miezemedusa.com Jetzt, wo es ihn schonmal gibt, müssen wir ihn erhalten, pflegen, neudefinieren und verbessern.
Autorin: ©Mieze Medusa – www.miezemedusa.com